»New Hope For The Dead« (C. Willeford, 1985)
Der Anti-Kanon – literarische Meisterwerke aus der untersten Schublade
Charles Willeford taucht recht selten auf, wenn der Kanon der Pulp- Fiction gesungen wird. Das liegt daran, dass Willeford ein Spätblüher war. Obwohl der 1919 in Little Rock, Arkansas geborene Amerikaner schon seit den späten 50ern Literaturkritiken und Noir-Romane schrieb, kam er erst vier Jahre vor seinem Tod, 1988, mit dem ersten Hoke Moseley-Roman »Miami Blues« in seine literarische Blüte.
Sergeant Moseley ist keine romantische Figur á la Philip Marlowe. Der mittelalterliche, gebisstragende, halbglatzige und bierbäuchige Vater zweier Töchter, der von seiner Frau für einen weitaus jüngeren und reicheren Baseball-Spieler verlassen wurde, ist immer bereit, sich mit der Realität auf Kompromisse einzulassen, ob das nun sein eigenes Leben betrifft oder das anderer Leute.
In »New Hope For The Dead« begibt sich Hope auf die Suche nach einer neuen Unterkunft, da auf einmal seine zwei pubertierenden Töchter vor der Tür stehen. Die Suche gestaltet sich sowohl frustrierend als auch recht bizarr. Das »house-sitting« eines ansonsten sehr netten Hauses ist mit der Pflicht verbunden, einmal täglich den Wachhund zu masturbieren.
Überhaupt nimmt Willeford den Terminus »Trash-Literatur« mitunter recht wörtlich. Der in »New Hope« zu lösende Fall beginnt mit dem Fund eines an einer Überdosis verstorbenen Junkies. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung stellt sich dann heraus, dass es im Anus des Opfers Zeichen von Fremdeinwirkung gibt, was Hoke regelrecht ins Philosophieren bringt: »Of course, at a military academy, a weak kid like Jerry would have been cornholed [umgangsprachlich für passiven Analverkehr] by the upper classmen, but they would have kept him off the spike [der Heroinspritze]«.
Um die Lösung des Falles voranzutreiben, entscheidet sich Hoke, mit der Hauptverdächtigen, Jerrys Stiefmutter, mit der dieser gleichzeitig ein Fuck-Buddy Verhältnis hatte, zu schlafen. Hoke kriegt die attraktive Blumenhändlerin, trotz seiner äußerlichen Handicaps, recht schnell in die Falle: Er ist ja ein Cop und Frauen stehen bekanntlich auf Macht, sei sie auch begrenzt und außerdem, Onkel Freud lässt grüßen: »Showing a woman your pistol is like showing her your cock«. Als es dann aber zum Vollzug kommt, fällt Hoke wieder der Fall ein, und er besteht recht rüde auf Analverkehr, was Stiefmutti auf Grund ihrer Hämorriden richtig doof findet.
Auch bei der Sexualaufklärung seiner pubertierenden Tochter Sue Ellen lässt Hoke das Thema Rosettenrodeo nicht los. Wir schreiben das Jahr 1984, und Sue Ellen hat Angst vor AIDS. Papa aber meint: »AIDS you don’t have to worry about, that comes from anal sex.«
Letztere Passage weist dann auch schon darauf hin, warum ich die Hoke-Moseley-Bücher keineswegs für Müll halte, sondern für große Literatur. Was im Mittelpunkt von Willefords Romanen steht, sind die sehr empathisch beschriebenen Alltagsprobleme eines Normcore-Bürgers des US-Staates Florida.
Und das mit einem Zeitkolorit – die Punks, die Hoke zur Strecke bringt, sind die psychopathischen Yuppies der Reagan-Ära –, das uns unglaublich präzise Einblicke in das amerikanische Konsumentenleben der 80er gibt: Hoke möchte sein Leben vereinfachen und kauft sich drei identisch geschnittene Polyester-»leisure suits« (gemeint sind hier wohl Safari-Anzüge, die auch Willeford selbst gern trug; die sind zwar noch aus den 70ern übrig geblieben, dafür aber gibt es »three for the price of two«). Hoke raucht Kool-Menthol-Zigaretten und isst auch gerne Trash: Er knabbert Cheetos und schlabbert Jell-O zum Nachtisch. Aber das alles geschieht ganz nebenbei.
Und das ist für mich poetischer als ein Rilke-Gedicht.
Philip Mann
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